Gothisches Musterbuch 1
Forfatter: G. Ungewitter, D. Statz
År: 1856
Forlag: T.O. Weigel
Sted: Leipzig
Sider: 34
UDK: 723
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die Gewerke sind aus- und ineinander geflossen, der Materialismus
und der Egoismus ziehen die tiefsten Furchen iu die ohnehin so viel-
fach zerklüftete bürgerliche Gesellschaft — kurz, alle Bedingungen
fast, unter welchen die gothische Kunst ihre Entstehung und erste
Blüthe gefunden hat, scheinen nicht mehr vorhanden oder gar in
das gerade Gegentheil verkehrt zu sein; unb dennoch sehen wir
dieselbe von Neuem Blüthen treiben irnd ihre Aeste immer weiter
ausbreiten. Allerdings fehlt es dabei auch an tauben Blüthen,
an Wasserschößlingen und an Schmarotzerpflanzen nicht. Diese
letztere Erscheinung ist sehr natürlich. Als die gothische Architektur
zuerst ins Leben trat, entwickelte sie sich, wie eine reifende Frucht,
in durchaus stätigem Fortgange ans dem damals Vorhandenen)
alle Mittel, deren sie bedurfte, waren in reichlichem Maaße vor-
handen; die Organisation der zUfattunenlvirkenden Kräfte entsprach
dem angestrebten Zwecke vollkommen oder konnte doch mit Leich-
tigkeit sich demgemäß umbilden; die Klmstüblmg ward von dem
Strome der öffentlichen Meinung gehoben und getragen, sie war
durchaus einheitlich lvie diese; die überall sich durchziehende corpo-
rative Gliederung reflectirt sich in der Bauhütte. So günstig die
damaligen Verhältnisse der in Rede stehenden Kunstübung waren,
so ungünstig find ihr die heutigen: diese bilden so zu sagen ge-
radezu das Widerspiel von jenen, wie dies hier wohl kauin noch
erst eines besonderen Nachweises bedürfen lvird. Wenn schon der
allgemeine Charkter unserer Zeit und die in ihr vorherrschende
Tendenz der Kunst überhaupt wenig zugethan sind, so sind sie
dies am allerwenigsten derjenigen Gattnng, deren Name schon an-
deutet, dast ihr das Bürgerrecht unter unö versagt bleiben soll,
daß unsere Civilisation sie als ein fremdartiges, als ein barbari-
sches Element von sich abweist. Die Kunst soll, ihrem Wesen
nach, ein Innerliches, Geistiges in die Erscheinnng treten machen,
äußerlich darstellen; zwei Factoren müssen also zu einer wahrhaft
productiven Knnftthätigkeit zusammenwirken; wo es an dem einen
ober an dein Andern fehlt, da steht immer nur etwas Halbes,
Unbefriedigendes zu erwarten. Was Wunder aber, nach dem
oben Gesagten, daß es zur Zeit nicht selten an beiden fehlt, an
den Ideen nicht weniger, als an den Darstellungsmitteln, so das;
am Ende wenig mehr noch vorhanden zu sein scheint, als ein ge-
wisser Speculationsgeist, der aus das Alte sich wirst, weil es
wieder neu zn werden verspricht, unb der zugleich darauf rechnet,
das;, eben weil es sich um etwas erst im Werden Begriffenes
handelt, zumal bei der entschiedenen Hinneigung unserer Zeit zum
Oberflächlichen, eine strenge Controlle nicht zu fürchten sei. Und
so entstehen denn jene mittelalterlichen Masken und Psuschwerke,
die für das Gedeihen der ächten Kunst unvergleichlich viel gefähr-
licher sind, als alle Angriffe ihrer principiellen Gegner. Wenn
in der That irgend etwas beweist, daß der gothischen Architektur
wieder eine große Zukunft aufgehen wird, so ist es der Umstand,
daß das Interesse für dieselbe nicht nur nicht gelähmt, sondern
sogar offenbar immerfort im Steigen begriffen ist, ungeachtet aller
der vorstehend angedeuteten Hindernisse, insbesondere aber ungeachtet
der großen Anzahl von Fehlgeburten, die sie seither in die Welt
gesetzt hat. Um Bauwerken gegenüber, wie beispielsweise die Wer-
dersche Kirche in Berlin, die neuen Kirchen zu Leipzig, Sonnen-
berg und Wiesbaden, die in Holland neuerdings in großer Zahl
erbauten katholischen Kirchen, das Rathhaus zu Weimar, der
vielen sich gothisch geberdenden Schlösser und Privathäuser nicht
zu gedenken, um, mit Einem Worte, durch so viele Zerrbilder —
welche um so wiederwärtiger erscheinen, je edler das Urbild ist —
den Glauben an eine neue Zukunft der Gothik nicht abermals
und vollends einzubüßen oder doch ganz irre an derselben zu wer-
den, ist es wahrlich nothwendig, daß dieser Glaube tief in unserer
Art und unserem Wesen wurzelt, unb daß die fragliche Kunstweise
einen Unverwüstlichen Lebenskeini in sich trage.
Wenn ein Katholik die Gothik um deswillen empfiehlt, weil
dieselhe vorzugsweise dein Geiste des Christenthlims entspreche, so
pflegt man ihn nach Italien, insbesondere nach Rom hinzuweiscn,
wo sie weder entsprossen, noch im Blühen begriffen sei. Es hat
dies allerdings seine Richtigkeit; nicht minder richtig ist es aber
eillch, daß der germanische Geist schon im Begriffe stand, jene
Halbinsel für die ihm entquollene Kunstweise zu erobern, als die
germanische Einfalt sich berücken ließ, die Errungenschaften eines
halben Jahrtausends dran zu geben und blinkende Rechenpfennige
gegen seine gehäuften Schätze einzutauschen. Man braucht blos
einmal einen Blick ans das in den Veröffentlichnngeii von Gaye
und Guhl über die Periode der s. g. Renaissance in Italien dar-
gebotene Material zu werfen, um sich von dem Gesagten zn über-
zeugen, wie denn auch der letztgenannte Schriftsteller sich nicht
entscblagen kann, zu bemerken (Künstlerbriese S. 450), daß in
Italien in der Masse des Volkes eine große Vorliebe für das
Gothische bestanden zn haben scheine, eine Vorliebe, die übrigens,
nebenbei bemerkt, von unserem Schriftsteller nicht getheilt wird.
Wenn man dort liest (S. 446), wie noch im Jahre 1572 ein
Palladio die Bauten deutscher Art die bedeutendsten in
Italien nennt, nachdem etwa ein Jahrhundert früher ein anderer
italienischer Architekt von großem Rainen, Antonio Filarete, sich
darüber wörtlich folgendermaßen hatte vernehmen lassen: „So
bitte ich denn einen Jeden, diese neue Art fahren zu lassen und
laßt Euch gar nicht von jenen (den deutschen) Meistern berathen,
die eine solche schlechte Praxis befolgen. Verdammt sei, wer dar-
nach bauete! Ich glaube es war ein barbarisches Volk, das sie
nach Italien gebracht hat," — so wird man wohl das oben von
uns Gesagte nicht zu stark ansgedrückt finden. Hätten jene deut-
schen Architekten, welche sich von den patriotischer gesinnten Ita-
lienern berücken ließen, doch noch wenigstens die Rolle des Raben
dabei gespielt, der durch Schmeichelreden dazu gebracht ward,
seinen Leckerbissen aus dem Schnabel fallen zn lassen! — Wen
das Nähere über das Wachsthum, um nicht zu sagen: die Herrschaft
der Gothik und ihre Leistungen in Italien, so wie über die Ver-
anlassung ihres Unterganges, dort Und anderwärts, interessirt, dein
seien außer den schon angeführten Schriften die Artikel empfohlen,
welche Didron in den „Annales archéologiques“ über den Gegen-
stand zu veröffentlichen begonnen hat. Den Katholiken Deutsch-
lands überlasse man es aber ruhig, sich in Betreff ihrer vorgeb-
lichen Inkonsequenz ihrer Kirche gegenüber zu rechtfertigen. So
dictatorischer Natur und so engherzig ist letztere nicht, daß ihr
nicht bewußt wäre, wie in Fragen der Kunst und des Geschmacks
nicht nothwendig Alles und Zedes vom Mittelpunkte aus angeord-
net werden muß. Sie weiß vielmehr recht gut und sie hat cs