Gothisches Musterbuch 1
Forfatter: G. Ungewitter, D. Statz
År: 1856
Forlag: T.O. Weigel
Sted: Leipzig
Sider: 34
UDK: 723
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müssen gleichsam in Fleisch und Blnt übergegangen, zur andern
Natur geworden sein. Das aber ist allerdings nichts Kleines und
Leichtes, weshalb denn auch unsere Architekten voraussichtlich noch
lange gegen die mittelalterlichen Fesseln eifern, oder doch minde-
stens alif eine „Umbildung und Veredlung" der Gothik-, nach
freiestem Ermessen jedes Einzelnen, dringen werden. Sonderbar:
noch nicht ein einziger Architekt, der praktisch dargethan, daß er
der alten Gothik Meister ist, hat deren Unzeitgeinüßheit behauptet
oder ans die Einführung einer neuen gedrungen; nur Solche, de-
ren Werke Niemand nennt und kennt, sieht man für die Erfin-
dung eines neuen Bauftyles sich begeistern, bis dahin aber min-
destens die durchgreifendste Fortbildung des Dagewesenen sür einen
Ehrenpunkt der Gegenwart erklären: ob sie vielleicht alle ihre
Kraft bis zu jenem frohen Ereignisse aufsparen wollen? oder ob
all' diese Widerbellerei gegen die Gothik etwa kurzweg ihre Erklä-
rung in der alten Geschichte von dem Fuchse und den säuern
Trauben findet?------------
Doch, die Liebe macht bekanntlich blind, warum nicht auch
vielleicht die Liebe für eine gewisse Kunstrichtung, für gewisse Ty-
pen, Formen und Bildungen? Die sich immer mehr ausbreitende
Neigung zur mittelalterlichen Kunst ist vielleicht nur eben ein
Modehang nicht, eine vorübergehende Grille, vielleicht auch das
letzte Aufflackern des erlöschenden Lichtes, welches die Sonne un-
serer Väter war? Nahm nicht auch unter Hadrian die antike
Kunst wieder plötzlich einen höheren Flug, aber nur um gleich
nachher desto tiefer zu sinken? —
Daß solche Fragen und Zweifel austauchen, ist gewiß höchst na-
türlich, nnd ferne sei von mir die Anmaßung, durch pcrem torische
Argumente dieselben beseitigen zu wollen. Sie fallen theilweise in
ein Gebiet, auf welcheni die Logik, die Dialektik unb die Empirie
nicht unbedingt maßgebend sind, in das Gebiet des Glaubens nein lieb.
Allein wenn man auch das Aeußerste annähme, wenn zugegeben wer-
den müßte, daß die in Rede stehende Kunstweise ihre Laufbahn voll-
endet, daß sie ihre productive Kraft ganz unb gar erschöpft habe,
daß unsere Zeit nothwendig etwas schlechthin Neues aus sich heraus
gebären müsse, so bleibt darum das StUdilim jener „überwundenen"
Kunstweise nichts desto weniger noch immer nothwendig, nnd zwar
das praktische sowohl, als das theoretische. Darin wenigstens
kommen nemlich alle Stimmen überein, wie weit sie im klebrigen
auch anseinandergehen mögen, daß bei der Erhaltung, der Restau-
ration nnd der etwaigen Fortführung der alten Bauwerke das in
il'iii'ii liegende Gesetz zur Richtschnur dienen müsse. — Alle ohne
Ausnahme verurtheilen die Zopfzeit wegen ihres Verhaltens gegen-
über den alten Denkmälern, denen die Willkürlichkeiten des Roc-
l’dco gewaltsam aufgenöthigt wurden, und wie prächtig auch im-
mer der uns in Aussicht gestellte „Styl der Zukunft" einst seine
Schwingen entfalten möge, zu dem fraglichen Zwecke wird er kei-
nenfalls dienen können, eben um seiner Neuheit willen. Nun
hat aber das Mittelalter, bei seiner ans Unglaubliche gränzenden
Fruchtbarkeit, uns eine so große Zahl von Kunstwerken hinterlassen
nnd, trotz allen Wüthens gegen dieselben uni) aller Vernachlässi-
ønng, sind noch so viele davon erübrigt, daß Generationen koin-
meu und gehen werden, bevor nichts inehr davon zn erhalten und
herzu stell en ist.
Solchen Betrachtungen gegenüber wirst sich von selbst die
Frage ans, ob denn hinreichende Vorkehr getroffen sei, um wenig-
stens dem unbestr ittenen Bedürfnisse zu genügen? Wer mit den
einschlagenden Verhältnissen in Dentschland einigermaßen bekannt
ist, wird sich billig darüber wundern, daß ich die Frage nicht da-
hin form «Urt habe, ob es, wie die Dinge zur Zeit stehen, über-
haupt möglich ist, daß jenem Bedürfnisse entsprochen werde.
In den officiellen unb sonst maßgebenden Regionen, insbesondere
in allen öffentlichen Kunst- und Gewerbe-Unterrichtsanstalten, hat
nur die Antike und was es an Abarten von derselben gibt,
Bürgerrecht. Wenn es für irgend Jemanden noch eines Beweises
dafür bedürfen sollte, so sei hiermit auf die noch im Laufe dieses
Jahres in Berlin erschienenen „Vorschriften für die Ausbildung
nnd Prüfung derjenigen, welche sich dem Baufache widmen," iino
die gleichzeitig publicisten „Vorschriften für die Königliche Bau-
Academie zu Berlin" verwiesen, in deren 63 Paragraphen der
mittelalterlichen Baukunst nicht einmal Erwähnung geschieht, wäh-
rend sie in einer 1852 erschienenen Bekanntmachung in Betreff
der Bauführer-Prüfung nur erwähnt ward, um alles Arbeiten im
Style derselben positiv zu untersagen, und, wie es auch das Regu-
lativ vorn 18. März 1855 (§ 6) that, nur solche Probearbeiten
für zulässig zu erklären, welche „entweder im antiken oder einein
in antiker Auffassung durchgebildeten Banstyle entworfen sind."
Die Verzeichnisse der Unterrichtsgegenstände und der Vorlesungen
geben den gleichen Standpunkt zu erkennen, auf welchem denn
auch selbstredend die Zöglinge, denen es unis Fortkonnnen zu thnn
ist, sich firiren, zumal ihnen so zu sagen jede Gelegenheit abge-
schnitten ist, noch in einer anderen Richtung sich gründlich aus-
zubilden, wenn dazu überhaupt, bei den immer mehr sich häufen-
den Anforderungen in wissenschaftlicher Beziehung, noch die Mög-
lichkeit bliebe. Auch die Muster- und Modellsaminlungen, die
Bibliotheken, die Mappen, selbst die äußere Ausstattung der zum
Unterricht dienenden Gebäude, kurz Alles trägt ja den gleichen
Stempel, allerwärts niacht sich durchweg nur die „Antike" geltend.
Wenn der Grundgedanke der richtige wäre, so ließe sich in der
That die Consequenz hinsichtlich seiner Durchführung nur lobend
anerkennen, uno nicht minder erklärt es sich leicht, daß man mit-
telst derselben und gestützt auf das Staatsinonopol, so wie auf
die immensen Mittel, welche letzteres seinen Inhabern zur Verfü-
gung stellt, so lange an der Hoffnung festgehalten hat — wie
man sie denn auch immer noch nicht aufgeben will — mit dein
„Antiklsircn" der Gegenwart doch noch zu Stande zu kominen,
im Reiche der Kunst dem Griechen- unb Römerthum die feste
Herrschaft über das Gcrmanenthum zn verschaffen. Die Duld-
sameren, welche anderen Richtungen noch eine gewisse Berechtigung
zuerkennen und sich dahin vernehmen lassen, daß jedweder Styl,
sei es nun für sich allein, sei es in Verbindung mit einem oder
mehreren Anderen, je nach dein Zweck und den obwaltenden Ver-
hältnissen, zur Anwendung zu kommen habe, mit Einem Worte,
die Eklektiker, wollen eben so wenig wie die erclusiv klassisch
Gesinnten den Vorrang der Antike in irgend einer Art beeinträch-
tigen lassen; mit gleicher Entschiedenheit weisen sie die Behauptung
zurück, daß die antike Kunst in einem untergegangenen Leben,
daß sie in Ideen und Anschauungen wurzele, von welchen das