Illustrirte Naturgeschichte Des Thierreichs
Erster Band
Forfatter: Eduard Pöppig
År: 1847
Forlag: Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber
Sted: Leipzig
Sider: 312
UDK: St.f. 59 Pöp
Naturgeschichte der Säugethiere
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lUicbcrkiiiKr.
Saugethicre.
239
Geweih erhalt oberhalb der Augensprofse einen ebenfalls
nach vorn gerichteten Ast und oben ein bis zwei anfrechte
Spitzen, und in gleichem Maahe geht die Vergrbherung
und Verastung fort, bis das Geweih zuletzt 20 — 24
Aeste oder Enden Hat. Bekanntlich nennt man Hirsche,
nach der Zahl der Geweihaste, Sechsender, Zehnender
u. s. w. Die Hochste Zahl von 24 Enden fonunt in un-
seren Zeiten kaum noch vor, Well Wild uberhaupt abge-
nommen Hat und man ihm felten gestalter, ein gewiffes
Alter zu uberleben. Die Vergroherung des Geweihes
geht auch im gesunden Zustande des Hirsches nicht immer
so ganz normal, wie sie eden beschrieben worden ist, und
bei Thieren, die alter als sechs Jahre sind, ist vom Ge-
weih auf ein Jahr mehr oder minder nicht mit scharsster
Sicherheit zu schliepen;wo Storungen eintreten, z. B.
durch Futtermangel im Fruhjahre, durch individuelle
Schwache oder Krankheit, da fann sogar eine Verkum-
merung oder vollige Mitzbildung erfolgen. Inden gropen
Geweihsammlungen alterer Jagdschloffer sindet man ge-
meinlich eine Menge von ungewohnlich gebilbeten Ge-
weihen ; Haufig kommt unter diesen das Geweih des Dam-
hirsches Por, in seiner ganzen Lange mit jenen Knochen-
warzen oder Perlen uberzogen, die eigentlich nur die Krone
des Rosenstockes umgeben sollten (Fig. 874.). Die Ent-
wickelungsstufen der Hirsch- und Damhirschgeweihe
sind ubrigens unter Fig. 873. und 875. dargestellt. Bei
dem Hirsche erscheint im ersten Jahre der Spieh 1, die
weitere Entwickelung des zweiten Jahres ist unter 2,3, 4,
des dritten und vierten unter 5, 6, des sunften unter 7,
des sechsten unter 8, 9, des siebenten unter 10, 11, 12
dargestellt; die Damhirschgeweihe 2, 3, 4 gehoren dem
zweiten, 5, 6, 7 dem dritten, 8, 9 dem vierten, 10 — 13
dem sunften und sechsten Wechsel an. Fig.873' n. b sind
Geweihe des canadischen Hirsches.
Lille der Gattung des Hirsches angehorende Thiere zeich-
nen sich vor anderen Wiederkauern durch zugleich zier-
liche und kraftige Formen aus; man sieht ihnen auf den
ersten Blick an, bah sie eben so fahig sind zum schnellsten
Laufe als zu Aeusierungen von forperlicher Starte.
Hals und Rumpf stehen in guten Verhalinissen; der
erstere ist lang, der letztere rund. Die Fuhe sind zwar
dunn, aber sehnig und fest und der Korperlast nicht so
unangemefsen, wie bei den Moschusthieren. Aus dem
gropen Auge spricht zugleich Furchtsamkeit und Selbst-
vertrauen, Scheu und Neugierde, Lebhaftigkeit und Ber-
standigkeit. Jedem Beschauer muffen die Hirsche durch
die Glatte lind Reinlichkeit ihres Felles und durch die
angenehme braune oder gelbliche, verschieden abgestuste
Farbung gefalten, die im Sommer lebhafter, im Winter
dunkler zu sein pflegt, bei den in tropischen Landern Hei-
mischen Arten sich allezeit und zwar auch dann gleich-
bleibt, Weilli man sie nach Europa versetzt, bei den Jun-
gen abstechend hellgefleckt ist. Einige Arten bleiben das
ganze Leben hindurch gesteckt, indessen kennt man wie-
derum andere, die in jeder Lllterstuse einfarbig sind. Das
Haar entbehrt sene Elasticitat, die an Raubthieren be-
sonders bemerklich Hervortritt, und ist steif oder sogar
etwas bruchig, eine beilåufig auch an mehreren Antilopen
gewohnliche Erscheinung. In der Regel ist nur Gran-
nenhaar vorhanden, Wollhaar fehlt oder steht dunn und
furz; eine Ansnahme machen die fur einen fehr kalten
Himmelsstrich ansgerusteten Reilnthiere. Albino's ge-
Horen unter Hirfchen illtd Damhirfchen (Fig. 887.) ge-
rade nicht zu den Settenheiten; die letzteren iverben an
einigen Orten Deutschlands absichtlich gezogen und in
England theuer bezahlt, als Schmuck der Parke reicher
Landbesitzer. Die MannchG mehrerer Arten haben ent-
wickelte Eckzahne; am Munfjac (Schabel Fig. 903.) tre-
ten sie fo iveit hervor, ivie am Moschusthiere. Die Pu-
pille Hat die bei den meiften Wiederkauern gewohnliche
Sprut eines verlangerten Ovals und fcheinen zum nacht-
lichen Sehen eingerichtet. Zwifchen dem vorderen Augen-
winkel und der Nafe liegt eine fchiefe, schlitzsormige Grube,
bie man unrichtig Thranengrube nennt. Sie Hat, se nach
ber Llrt, eine verschiebene Grohe, fehlt einigen ganz, ist
mit erhabenen Hautrandern umgeben, bie periobifch an-
schwellen und dann keine Zufanimenziehung gestatten,
fonbert eine falbenartige, bald verhartenbe Flufsigkeit
ab, ben fogenaunten Hirfchbezoar, steht aber iveber mit
ber eigentlichen Thranengrube noch mit dem Nafencanal
in Verbindung und ist hinsichtlich ihrer Bestimmung und
ihres Nichens noch unerklart. Die Ohren erreichen an-
fehuliche Grohe; Gehor und Geruch sind fo fcharf, bah
das Beschleichen eines Hirsches dem Jager nur durch
grohe Vorsicht oder gunstigen Zusalt gelingen fann.
Mehrentheils ift bie Schnauze flein, platt unb unbe-
Haarl; am Rennlhier, befonbers aber am Elenn, weicht fle
ab burch ungen,eine Breite unb bichte Behaarung. Die
Oberlippe besttzt viele Beweglichfeit unb bient als grei-
fenbes Werfzeug. Die Zunge ist lang unb weich unb Sitz
eines ziemlich feinen Gefchmackes, benn alle Hirsche sinb
mehr ober minber Wahlerisch beim Fressen, beriechen unb
unterfuchen ihr Futter vor dem Genuffe mit Sorgfalt
unb verwerfen Alles, was irgendwie mit frembartigen
Stoffen vermeiigt ober gar mit thierischen Korpern in
Berfthrung gefommen ist. Die Stimme besteht in einem
rauhen Geschrei, welchem ber Ebelhirsch zur Zeit ber
geschlechtlichen' Erregung eine brohneube Starfe geben
fann. Die Weibchen haben vier Zitzen unb gebaren im
Fruhjahre ein ober hochstens zwei Junge; bie Fortpflan-
zuilgszeit saltt in unferen Klimaten auf bas Spatjahr
unb reizt bie manulichen Jnbivibuen dergestalt, bah ste
ihre Furchtsamfeit ablegen, mit Wuth ober Bosheit auf
ben Menfchen losgehen, ihn mit ben Geweihen angreifen
ober unter bie Fuhe zu treten versuchen unb enblich
ihres Gleichen bie erbittertsten Gefechte liefern. In tro-
pischen Låndern Hangt biese Periobe mit bem Eintritte
ber Regenzeit zusammen. An intelleetueller Fahigfeit
ubertreffen bie Hirsche bie meisten anberen Wiederfauer;
fle entwicfeln zumal bei Versolgungen viele Lift unb
geben unverfennbare Spuren von Ueberlegung. Die
einzeln ober paarweis Lebenben laffen sich zwar bis zu
einem gewiffen Grabe zahmen, allein vorzugsweis zur
Zahmung unb zur Rolle von Hausthieren sinb biejeni-
gen Arten gefchickt, bie, ivie das mchliche Remithier,
schoii im wilben Zuftanbe gesellig leben unb grohe Heer-
ben bilben. Manche bewohnen nur Walber, anbere
ziehen offene Lanbereien vor, einige vermeiben bie Nahe
bes Waffers, anbere bewohnen im Vorzug fehr fumpfige
Gegenben. Ihr naturlicher Verbreitungsbezirf reicht
fast uber bie ganze Erbe, Neuhollanb ausgenommen.
Alan finbet eine Lirt im nordlichen Asrifa unb eine an-
bere auf ber Mehrzahl ber grohen australifchen Jnfeltt.
91nt artenreichsten sind sie auf ber nordlichen Halbfugel.
Kunstlich verpsianzt wtirbe das Reh durch bie Portu-
giefen nach Mauritius und von ben Englanderit nach
Jamaica. Fur ben fNenschen haben sie Wichtigfeit burch
ihr mehrentheils zartes unb wohlschttteckendes Fleisch,
ihre Felle und bas zu vielen technifchen Zweckeit nutzliche
Geweih. Vom Rennthier Hangt bas Forfbestehen gattzer
Volferschasten bes auhersten Norbens fast allein ab. Man
theilt bie ziemlich grohe Gattung nach etwas funstlichen
Kennzeichen in ntehrere Gruppen.
Erste Gruppe. Elennthiere. Die Geweihe
sinb nicht gestielt, fonbern sitzen mit ber breiten Basis
fast unmittelbar auf bem Stirnzapfen auf, Haben Weber
Augen- noch Mittelfproffen unb sinb an ihrem obe-
ren, fehr verbreiterten Enbe fingerformig eingeschnitten.
(Fig. 872.).
1. DaS eurøp^ische Elennthier. (Cervus Alees.) Fig. 876.
Die Elenn ubertreffen burch Grohe alle ubrigen Hir-
fche, weichen in ber Gestalt etwas von ihnen ab, sinb
aber feineswegs fo plump unb fo hahlich gebilbet, wie
bas Volfsvorurtheil es anninunt. Allerbings verschwin-
bet in ihnen bie Eleganz unb Zierlichfeit des Hirfches,
allein bie Umriffe bleiben runb unb sinb niemals eckig
ivie am Ochfen, unb nur bei genauer Vergleichung ein-
zelner Korpertheile mit einanber bemerft man einigen
Mangel senes El'enmaahes, auf welches unfere Begriffe
von Schonheit zum grohen Theile begrundet sinb. Der
gegen zwei Fuh lange Kopf hat zu geringe Breite unb
fchwillt nach tinten in eine ungetnein bitfe unb fleischige
Schnauze, bie zumal in ber Gegenb ber Nasenlocher
einem breiten Kiffen gleicht. Lange, efelartige Ohren,
fleine, tiefliegenbe Augen vermehren nicht bie Schonheit
bes Kopfes, auf welchem bie oft an 60 Pfunb fchweren
Geweihe bergestalt lasten, bah er im ruhigen Zuftanbe
ober im gewohnlichen Gange nicht stolz unb hoch erha-
ben, fonbern horizontal getragen wirb. Vom Natten
bis zum Wiberrist lauft eine starte Mahne, unb ber Vor-
berhals i ft nicht allein mit langent Haare befleibet, fon-
bern auch mit zwei furzen, Hangenben Wammeit verfehen.
Eigentlich bringen nur Kopf unb Hals den Eindruck einer
gewiffen Nitformlichteit ober Mihgestaltung Hervor, benn
am runden, furzen und gebruttgen gebaueten Riimpfe
herrscht nicht minber Ebemnaah als an ben hohen, mit
fcharfgezcichneter Alusfulatur versehenenfesten unb
fraftigen Gliebern. Das Haar ist fo sprbde, bah es
beimBiegen abbricht, braunlich-grati nach unten, schivarz-
lich an ber Spitze, bas Colorit des ganzen Korpers baher
ziemlich buster und gleichsormig. Am Unterfiefer s fin-
gerer Thiere steht eine starte, brufenartige Warze, von
welcher em laitgerer Haarschopfherabhangt. Der Schwanz
iiiiht fatiin vier Zoll, ber Korper gegen acht Fuh in der
Lange; Hohe unb Statur erinnern an bas Pferb. Das
etwas fieinere Weibchen (Elennfuh) hat nie Geweihe,
unb bas Junge ist allezeit uiigesteckt.
Das naturliche Vaterlanb bes Elenn erstreckt sich
fiber unfreunbliche, mit Wald bebeckte Flachen, von bem
norbostlichen Europa burch ganz Norbasien bis an ben
9(mur. Da sene Gegenben auch ben fuhnsten Eroberern
bes Alterthuines verschlosten blieben unb fefbft bie ben
Hanbel liebeitben unb unternehmenden Griechen erst in
fpateren Zeiten bis in bie Bucharei vorbrangen, ivo sie
sich an der auhersten Grattze ber ersorfchbaren Welt
angelangt meinten, fo blieb das Elenn lange unbefannt.
Dah Llristoteles von ihm nichts geivuht, ist eben fo ge-
wih, als bah es fpatere Griechen, Pliitius und Cafar
unter bem Namen Alte ober Alces anbeuten, der augen-
fcheiitlich von bem celtifchen Elch unb bem fcandiitavi«
fchen Aelg Herstammt. Jene Kenntnih muh aber sehr
unsicher gewesen sein unb mehr auf Ueberlieferung bar-
barifcher Volter als elgener Untersuchung ober boch
Anschattung beruht haben, benn felbft Plinius schmuckt
mit ben wunberlichsten Fabeln bie Geschichte feines Alce
aus. Es follte, burch bie Gestalt feiner uberhaiigenbeit
Oberlippe grævlingen, nur ructwartS geheitb grafen fon-
nen, tein Feffelgelent haben unb baher int Laufe die nuge-
fchicktesten Bewegungen machen. In ben Urzetteit mag
bas Elenn in Mittelbeutschlanb haufig gewesen sein, wie
seilte halbfossilen, an vielen Orten vorfommenben Kno-
chen beiveisen, aber bereits im Mittelalter scheint es
weiter norblich getrieben worbett zu sein. In Preuhen
wtirbe es schon vor einhundert Jahren als Settenheit
betrachtet unb geschont; gegenwartig ist es nur in ben
russtschen Ostfeeprovinzen, Lithauen, Finlanb unb auf
ber scanbiitavischen Halbinfel anzutreffen, allein auch bort
nirgenb fehr gewohnlich, fonbern ftets auf gewiffe Oert-
lichfeiteit beschrantt. Im Sommer hatten sich bie Manit-
chen in fleinen Gefellfchasten in fuutpfigeit Walbungen
auf, itu Winter vereinzelu sie sich unb fuchen in ben ttn-
zuganglichsten Orten Sebtitz gegen bie Katte. Nttr bie
Weibchen unb ihre Jungen treten zu fleinen Rubeln ztt-
famiiten, bleiben aber ohne Verbinbung mit ben erwach-
fenen mannltchen Thieren. Liebe ztitit ruhigen Liegen,
tangfarner unb etwas fchwanfender Gang fcheinen Zei-
chett eines phlegmatifchen Temperaments, welches inbeffen
in ber Wirflichteit nicht vorhanbett i ft, benn iitt Augett-
blicte ber Gefahr entmiefeft bas Eletttt eben fo viele
Schnellig^tt als anbere Hirsche unb mehr Muth unb
Entschloffenheit als biefelben. Verivunbet laht es zwar
nie einen Klagelaut Horen, gebt aber routbentbraont