Die Holzbaukunst Norwegens
In Vergangenheit Und Gegenwart
Forfatter: L. Dietrichson, H. Munthe
År: 1893
Forlag: Schuster & Bufleb
Sted: Berlin
Sider: 205
UDK: st.f. 72(481) die
Mit Einer Übersichtskarte Und 31 Tafeln Nach Alten Denkmälern Und Nach Ausführungen Von H. E. Schirmer, G. Bull, Thrap-Meyer, B. Lange, V. Hannosen. Und H. Munlhe, Sowie Über 220 Textabbildungen
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ist für sich in der Stabkirche vollständig in seine Rechte ein-
getreten. Und warum? Weil diese originale Bauform es
verstanden hat, die todte Zähigkeit des Holzes zu
benutzen, um dieselbe von innen heraus in allen
Formen und Richtungen in eine lebendige Elastizität
zu verwandeln. Das ganze System bindet sich selbst,
wie im Steinbau, aber in ganz anderer Weise, mittelst Ein-
spunden, Einzapfen, Knieverbindung und Rahmenwerk. Und
in dem ausgeprägten Vertikalismus des ganzen Systems, der
nicht nur in den vertikalen Bohlen, sondern in der ganzen An-
lage hervortritt, kündigt sich ein Streben nach der Höhe an,
das in keinem zweiten romanischen Kunstwerk einen so eigen-
thümlichen Ausdruck gefunden hat, wie in diesen empor-
steigenden Wänden, Giebeln und Dächern, die von Dachreitern
und Drachenköpfen gekrönt sind. Bald in Rundstämme,
bald in viereckige Balken hat die Axt die tragenden Glieder
geformt; und das kunstfertige Messer des norwegischen Bauern
hat in den Kirchenportalen, Säulenkapitälen und Halbsäulen
einen Reichthum der Phantasie hervorgebracht, wie er in
keiner einzigen Gruppe der übrigen Holzkirchen auch nur an-
näherungsweise sich findet, und wie er nur von der in
der Konstruktion derselben Bauten liegenden Phantasie über-
troffen wird.
Und zwar ist dieser bedeutende ästhetische Eindruck
durch die im Verhältnifs zu dem Ergebnifs ein-
fachsten und geringsten Mittel gewonnen: In dieser
Konstruktion ist nichts Überflüssiges, es fehlt aber auch
nichts, was nothwendig wäre. Hier ist Freiheit in der Noth-
wendigkeit, strenge Gesetzmäfsigkeit in der Freiheit: Das höchste
Gesetz der Architektur ist somit in diesen Kirchen in naiver
und primitiver Weise zur Geltung gekommen, eine Naivität,
die eben den höchsten Reiz dieser Kirchen ausmacht. Und diese
treuherzige Festigkeit der Konstruktion, die sie fast alle gleich-
zeitigen Holzkirchen hat überleben lassen, haben sie von einer
nationalen Seite der Baukunst> vom Schiffsbau empfangen,
wie die Vikingerzeit ihn ausübte. Dadurch gewinnen die Stab-
kirchen die starke, kecke und trotzige, wenn auch bizarre
Physiognomie, die mit der Physiognomie des norwegischen
Volkes in der Zeit der Saga so grofse Ähnlichkeit hat: Die
völlige Selbstzulänglichkeit, die geschmeidige Stärke, die elas-
tische Zähigkeit, die Kargheit des Ausdrucks, die nur an den
nothwendigen Punkten ins Äufsere hervorblüht, wie die Or-
namente im Gebäude, alle diese Eigenschaften sind dem Volke
und seinen Kirchen gemeinsam, und daraus glaube ich schliefsen zu
dürfen, dafs auch viele ästhetische Elemente dieser Kirchen
in Norwegen selbst entstanden, nicht nur den Angelsachsen
entlehnt sind.
So machen die Stabkirchen, wenn wir sie aus dem Verfall
der Jetztzeit auf ihre ursprüngliche Schönheit zurückführen,
den Eindruck einer von statischen Gesetzen gebundenen
Freiheit, eines inneren organischen Lebens, die ein
echtes Kunstwerk immer machen mufs: Klar und mit innerer
Nothwendigkeit hat es sich vom Kern bis in die Giebelspitzen
entwickelt. Einen höheren Standpunkt schien die romanische
Holzkirche nicht mit voller Bewahrung der struktiven Eigen-
thümlichkeit des Holzes und noch weniger ohne dieselbe er-
reichen zu können, und einen höheren wird sie wohl auch
thatsächlich nirgends erreicht haben.