Gothisches Musterbuch 1
Forfatter: G. Ungewitter, D. Statz
År: 1856
Forlag: T.O. Weigel
Sted: Leipzig
Sider: 34
UDK: 723
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Kleinlichkeit aus, welcher jeden freien, frischen Anflng lähmt; das
Auge wird verwöhnt und die Originalität zerstört, so viel der
herrschende Eklektizismus deren überhaupt noch bestehen läßt.
Schon durch die Wahl der Werkzeuge wäre auf eine andere Bahn
einzulenken, man sollte die Kohle, die Kreide und die Rohrfeder
den Schülern vor Allem in die Hand geben. Sodann sollte man
darauf hinwirken, daß sie, fern von jeder tobten Nachahmung,
schon in den (5on to uren den Geist lind Charakter des darzn-
stellenden Gegenstandes ausdrücken lernen, daß bei Riffen die geo-
metrische, nnd nicht die perspectivische Darstellungsweise die Regel
bildet, daß einfache Linien, Und nicht die, in zwiefacher Hinsicht
unwahren s. g. Licht- und Schattenstriche gezogen werden, daß die
Verschiedenheit des Materials schon in der Zeichnung erkennbar
wird, nnd daß eine freie Behandlung erst bei vollem Verständnis;
der Sache eintritt. Um ein solches Verständnis; herbeizuführen,
lasse man recht viel Durchschnitte und, wo es angeht, nach der
Natur zeichnen, Letzteres jedoch, unter Hervorhebung des Charakte-
ristischen , in möglichst wenig Zügen. Bei der Benutzung alter
guter Muster aus dem Mittelalter zum Studium liegt die Gefahr
ziemlich nahe, in eine Art von christlicher Renaissance zu gerathen,
die wie die heidnische des 16ten Jahrhunderts das Plagiat an der
Stirne trägt. Ueberhaupt ist es nichts Leichtes, nach keiner Seite
hin zu viel oder zu wenig zu thun — es ist dies ein Merkmal
der ächten Klassizität —* im Zweifel aber neige man sich doch
lieber nach der Seite der Natur hin, soweit nicht, wie bei der
kirchlichen Kunst, gewisse Typen, welche eine traditionelle Sanction
haben, oder sonst Rücksichten höherer Art maßgebend sind. Vor
Allem gehe das Streben nach Wahrheit und Gesundheit! der große
Apparat von Mitteln, nnd selbst von Gedanken oder Bezügen
inacht das Kunstwerk nicht aus. — Um jener Eigenschaften willen
sind noch die besseren alten Holzschnitte als Nebungsmaterial zu
empfehlen; das Angemessenste ist, sie in größerem Maßstabe nach-
zuzeichnen oder doch Einzelnes daraus, was ein hervorstechendes
aktuelles Interesse darbietet, abgesondert solchergestalt zu behandeln.
Da hier die Vorbildung znin s. g. Kunsthandwerke vorzugsweise
in Rede steht, so möchte ich noch darauf aufmerksam machen, wie
solche alte Holzschnitte, Stiche und Bilder eine wahre Fundgrube
für dasselbe darbieten. Hier haben wir die baulichen mib häus-
lichen Einrichtungen, das Geräthe, die Bekleidung, den Schmuck,
knrz Alles, was dein äußeren Leben der großen christlichen Klmst-
pcriode Gestalt und Farbe gab, vor unseren Augen. Wie bildend
nnd lohnend würde es nicht sein, diese Gegenstände aus dein Ma-
lerischen ins Realistische zurückzuübersetzen, die verschiedenen Geräth-
schasten schulgerecht zu construiren nnd die etwaigen Modifikationen
anzubringen, welche der Gebrauch derselben im Leben erheischt!
Dllrch eine solche Ucbung würde man am sichersten dazu gelangen,
die alten Formen recht zu verstehen und mit unseren neuen Be-
dürfnissen in Einklang zu bringen, während die sich selbst über-
lassene Phantasie unserer Schlosser und Tischler bis dahin fast
nur Zerrbilder zu Tage gefördert hat, wenn Jemand etwas Go-
thisches von ihnen zu haben wünschte. —
Aber nicht blos ans das Zeichnen nach guten alten Mustern
soll man sich beschränken; weit mehr nutzbringend noch sind die
plastischen Nachbildungen, und zwar wo möglich iin Materiale des
Originals, nicht in Gips, Kork oder Pappdeckel, wie es wohl zu
geschehen pflegt. Ich will auf bereits Gesagtes nicht zurückkom-
men, sondern nur noch die Ueberzeugung aussprechen, daß es sich
hier um einen wahren Angelpunkt für die Zukunft unserer ge-
sammten Kunstübung handelt. Alles Zeichnen, Messen, Lernen,
Jmaginiren und Reflectiren wird derselben nicht auf einen grünen
Zweig helfen, so lange nicht wieder eine nähere Verbindung der
Kunstschulen mit den Werkstätten stattfindet: wie ein Irrwisch
wird der Geist der Kunst umherflattern, so lange er mit seiner
stofflichen Hülle, die das Handwerk ihm bietet, nicht wieder Eins
geworden ist.
Für die jungen Architekten insbesondere möchte ich noch einen
Vorschlag hier niederlegen, welcher sich an das zuvor hinsichtlich
der Benutzung der alten Bilder Gesagte anreiht oder vielmehr mir
eine speziellere Anwendung davon macht. Ich meine nemlich, sie
sollten sich recht emsig nach alten Ansichten von Städten und
Gebäuden umthun und ans das Studium derselben eine besondere
Sorgfalt verwenden. Vor Allein möchte ich zu diesem Zwecke
Merian's Topographie empfehlen, ein Werk, auf welches unsere
Nation alle Veranlassung hätte, stolz zu sein, mib das sie wohl
nur um deswillen so gründlich ignorirt, weil sie darin zugleich,
wie in einem Spiegel, ihr Unglück und — sagen wir es nur ge-
rade heraus — ihre Schmach erblickt. An einem anderen Orte*)
habe ich bereits darauf hingewiesen, wie diese zahllosen Abbildun-
gen, indem sie uns in ihrer anspruchlosen Wahrhaftigkeit die
ehemalige inonumentale Herrlichkeit der deutschen Nation vor das
Auge führen, so recht dazu geeignet sind, unser Nachdenken über
den so traurigen Wechsel der Dinge und dessen Ursachen zu wecken.
Unsere Gaubeflissenen mögen hier an den Wäldern von Thürmen
und Monumenten aller Art, an dieser Ueberfülle der malerischsten
Baugruppen, an diesen so phantastischen und doch immer so gesetz-
mäßigen Formen und Combinationen sehen, wie Deutschland, ja
Europa aus der bildnerischen Hand des Mittelalters hervorgegangen
ist, und dann vergleichen, was die „Aufklärung", der Classizis-
mus, der intelligente Staat, die Acadeinien und die Bücherweisheit,
mit Hülfe der Baupolizei nnd der Stadtbanmeister, iin Verfolge
daraus gemacht haben — und es werden ihnen, denke ich, die
Augen darüber aufgehen, wohin wir mit all' den besagten Errun-
genschaften, in ästhetischer Hinsicht wenigstens, gekommen sind, unb
was uns noch bevorfteht, wenn es auf diesem Wege weiter fort
gehen sollte. — Sehr instruktiv würde es sein, wenn die Bau-
schüler einzelne Bauwerke und Gruppen aus Merian kunstgerecht
im Großen ausführten und nach den vorhandenen Andeutungen
profilirten. Sie würden sich so allmählig in die Bildungsgesetze
der Alten hineinfinden nnd namentlich sich daran gewöhnen, ihre
Erfindungsgabe immer innerhalb gewisser Schranken zu halten;
zugleich aber wäre dies auch der naturgemäßeste Weg, sich in der
Geschichte der deutschen Baukunst näher zn orientiren und dieselbe
Fleisch nnd Bein gewinnen zu machen.
Znr Aufmunterung der Schüler nicht blos, sondern auch 511111
Vortheil der betreffenden Unterrichtsanstalten würde es gereichen,
*) Die christlich-germanische Baukunst und ihr Verhältniß zur Gegenwart.
2tc Ausl. S. 32.