Ausstellungszeitung Nürnberg 1906
Forfatter: Paul Johannes Rée
År: 1906
Forlag: Wilh. Tümmels Buch- Und Kunstdruckerei
Sted: Nürnberg
Sider: 1096
UDK: St.f. 91(43)(064) Aus
Amtlisches Organ Der Unter Dem Protektorate Sr. Konigl. Hoheit Des Prinsregenten Luitpold Von Bayern
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Seife 58
Boyerifche 3ubilflums= handes=flus[fellung 1906
Nr. 3
3ehntel waren Grundholden einer Gutsherrschaft und Hatten
an ihren Gutern, die sie meistens als 3eit= oder Lrb-
pachter bebauten, nur das Nutzungsrecht. Line Lage, die
alles wirtschastliche Gedeihen hinderte, Keinen Sum sur
Verbesserung des Hnbaus, stir volle Rusnutznng des Bodens
auskommen lietz. Lrst das 3ahr 1848 brachte die mahre
Bauernbesreiung mit der Nushebung der Grunbherrlichkeit
und der Frohnben und der Rblosung der 3ehnten. mit
der Grundherrlichkeit fielen auch die Hefte der niederen
Gerichtsbarkeit und der Verwaltung der Grundherren in
ihren hofmarken — solcher adeliger Guter mit Stanbschafts-
recht gab es 945 — und damit gewann der Staat erst
seine volle macht uber das ganze Land zuruck. Lin
starker demokratischer 3ug geht durch das letzte 3ahr-
hundert. mit der Hushebung der Leibeigenschast Hat 1808
die Lmanzipation des niederen Stanbes begonnen. 3n
der ersten halfte des Iahrhunderts die Bauern, in der
zweiten uberwiegend die Hanbroerker und Fabrikarbeiter
beruhrend, hat sie sich in Ltappen durch das ganze 3ahr-
hundert sortgesetzt, Hat uns uber die Lrleichterung der
Verehelichung und Rnsassigmachung und uber die Geroerbe-
sreiheit bis zum allgemeinen direkten Ivahlrecht, zur roohl-
tatigen Sozialgesetzgebung des deutschen Heichs und in
Bayern zur 3wangstilgung der Bodenzinse aus Staats=
mitteln (1899) gefuhrt. 1903 wurden allein an 3nvaliben-
und Hltersrenten in Bayern mehr als 6 millionen mark
ausbezahlt, sur die Landwirtschast aber bedeutete die Tilgang
der Bodenzinse ein Geschenk des Staates in der Hbhe von
175—182 millionen mark. Vor Hundert 3ahren Konnte
es vorkommen, bah der ouf Freistift sitzende Bauer von
Hans und hof abziehen muhte, nur weil es seinem Guts-
Herrn so gefiel. Heute sehen roir den bildungs- und besitz-
losen Rrbeiter als gleichberechtigt neben dem Staatsminijter
seinen Ivahlzettel in die Urne legen. 3u erortern, ob
roir uns damit nicht aus eine abschussige Bahn begeben
haben, gehort nicht hierher. IDir mussen mit der Tat-
sache rechnen, dah alle grohen politischen Parteien im
allgemeinen ivahlrecht einen Fortschritt erblicken oder
roenigstens zu erblicken vorgeben und dah, roer dazu den
Kopf schuttelt, als reaktianarer Sonberling gilt.
Bayern roar in seine neue Lpoche eingetreten mit
Landstanden verschiedener Provinzen, die Keine Reprasen-
tation des Valkes, sondern nur der privilegierten Stande
bildeten und nur mehr in Russchussen fortlebten. Die
Konstitution von 1808 hatte diese mittelalterlichen Trummer
Hinroeggeraumt, ohne einen Lrsatz dafur aufzustellen. Lrst
nad)Illontgelas' Sturz, aber am fruhesten unter allen
deutschen Staaten, erhielt Bayern (1818) seine Reprasen-
tativverfassung, die den Regierten einen Rnteil an der
Regierung geroahrte. Kronprinz Ludwig hatte das Iverk und
seinen Rusbau in freiheitlichem Sinne gefbrbert, der Freiherr
v. Stein begruhte es als „einen entscheidenden Fortschritt".
Hier hatte einmal der Suben, roo die Flusse eilen, aber die
menschen sich 3eit lassen, den Norden uberholt. mont-
gelas a. D., dem der Kbnig den Lntrourf der Verfassung
zeigte, roar gegen ihre Linfuhrung, die nur Konfusion
stiften roerde. Lr meinte, das Iverk sollte durch Provinzial-
versammlungen vorbereitet und durch diese zuerst einige
politische Bildung, die er im Valke ganzlich vermihte, vor-
bereitet roerden. 3n der Tat muhte das Valk erst durch
die Teilnahme an der politischen Rrbeit allmahlich die
Fahigkeit zu erspriehlicher Teilnahme erroerben, und roer
die Verhandlungen der ersten Landtage verfalgt, roird ofter
geneigt sein, montgelas' bissigem Urteil zuzustimmen, dah
man hier viel sprach, ohne etroas zu sagen. Iver mochte
aber die segensreichen Fruchte der parlamentarischen Lin-
richtungen verkennen, die vielen roohltatigen Gesetze, die
roir ihnen verdanken, ihre palitisch erzieherische macht und
die unentbehrliche Schranke, die sie gegen Ivillkur bilden!
3m Rnfang Kam dazu, dah die gemeinsame Rrbeit im
Landtage die vier Stamme sich naher brachte, Gegensatze
versohnte, die Rnhanglichkeit an den jungen Staat roeckte
oder Kraftigte. Ruch hier hat erst die denkrourdige Land-
tagssession vom Fruhling 1848 der Reform das Siegel der
Vollendung aufgedruckt: das neue Ivahlgesetz fur die zroeite
Kammer vom 4. 3uni 1848 vereinfachte den Ivahlmodus
und befeitigte die ftandische Gliederung der Rbgeordneten,
roelche der Verfassung von 1818 noch einen unheimlichen
3ug der Verwandtschaft mit den alten Landstanden auf-
gepragt hatte, mit dem Recht auf Gesetzesantrage rourde den
Kammern zugleich eine namhafte Lrroeiterung ihrer Kompe-
tenz geroahrt. Ruf staatsrechtlichem Gebiete brachte diese
denkrourdige Session roeiter das Gesetz uber die minister-
verantroortlichkeit, auf dem der 3ustiz die heihbegehrten
Schrourgerichte. Line notroendige Lrganzung der Landstande
bildeten die Kreisvertretungen, die Landrate, die nach langen
Verhandlungen 1827 eingefuhrt rourden. Den Gemeinden
roard durch das Gemeindeedikt vom 17. mai 1818, das ihnen
die Verroaltung der ihr Ivohl zunachst beruhrenden Rnge-
legenheiten uberlieh, neues Leben eingefloht. Rod )ent-
schiedener haben die Gemeindeordnungen von 1869 fur die
Landesteile rechts des Rheins und die Pfalz den Grundfatz
der Selbstverwaltung und Rutonomie der Gemeinden unter
mahvoller Staatsaufsicht zur Geltung gebracht. mit dem
Gefuhl groherer Verantwortlichkeit und freieren Selbstbestim-
mung ist, wie v. Kahr sagt, ein frischerer 3ug in das ge-
meindliche Leben gekommen.
Uberhaupt ist mit dem Staate der Staatsburger ein
anderer geroorben. Unter bem alles bevormunbenben unb
freiheitshemmenben Staate bes 18. 3ahrhunberts errouchs
ein engherziges Spiehburgertum, erwuchsen freilich auch bie
glanzenben helben bes Geistes unb ber Tat, roelche bas
Blutenalter unserer Literatur unb ben unvergleichlichen
Rufschroung ber Befreiungskriege herbeifuhrten. Fehlt es
uns heute, nachbem Bismarck bahingegangen, an mannern,
bie biesen ebenburtig rodren, so hat bafur ber Durch-
schnitt ber menschen an Iveitblick, 3nitiative, (Energie unb
Ruhrigkeit geroonnen. Unb erst bas 19. 3ahrhunbert
ist sich ber 3aubermacht voll berouht geroorben, bie in ber
Vereinigung ber Krafte liegt, unb hat aus ber Rusnutznng
bes Vereinsrechtes auf ben verschiebensten Gebieten Fruchte
erzielt, roelche bie Ivirkungen bes im ausgehenben mittel-
alter lebenbigen Linungstriebes, bie Stabte- unb Rbels-
bunbnisse, bie 3unfte unb Bruberschaften noch uber-